Sterbehilfe

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Bild: Bing Create | Stichwort: Wiener Secession
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Frühkindliche Berührungspunkte

Den Auslöser meiner Traurigkeit kenne ich nicht. Aber ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich im Kleinkindalter am helllichten Tage in meinem Kinderzimmer auf dem Bett lag und schluchzend weinte. Da stieß ich das erste Mal in meinem Leben lautstark aus: Ich will nicht mehr leben! Oder korrekter, ich will tot sein! – Ich weiß noch, wie erstaunt, peinlich berührt und überrascht ich selbst in diesem Moment darüber war. Meine Mutter kam, so wie es ihre Art war, jedenfalls nicht in mein Zimmer, um mich zu trösten und ließ mich mit meinen irritierenden Gedanken allein. Dafür weiß ich noch allzu gut, wie sie selbst oft darüber sprach, dass sie sehr früh versterben werde, so wie es ihrer eigenen Mutter geschah. Auch daran, wie eines Nachts in meinem Kinderzimmer ein Polizist meinen Arm schüttelte, um mich aus dem Schlaf zu holen, und mir Fragen stellte. Ich ließ mich aber nicht wecken und ignorierte den beharrlichen Versuch. Meine Mutter wurde in ein Krankenhaus eingeliefert und blieb zumindest die nächsten Tage fort. Außer diesen mutmaßlich einen Versuch unternahm sie meines Wissens nie wieder etwas und ist bis ins hohe Alter quicklebendig.
Auch dieser Vorfall gelangte bis zum heutigen Tag unter einen Mantel des Schweigens. Dafür weiß ich aber, dass meine Mutter scheinbar Gefallen daran hat, kleine Kinder mit Krankheit und Vergänglichkeit zu konfrontieren. Als das erste Kind meiner Schwägerin drei oder vier Jahre alt war und wir alle gemeinsam bei meinem Bruder W.M. eingeladen waren, konnte ich aus ihrem Gesicht einen Anflug von Freude ablesen. Das Kind wirkte dagegen ziemlich irritiert und ratlos. Ich weiß nicht mehr genau den Wortlaut, aber ich war aufgrund meiner eigenen Erfahrungen plötzlich ziemlich sauer und fragte, warum sie das mache, da Kinder nur schlecht damit umgehen können. Ich weiß nicht mehr, was meine Mutter erwiderte, aber eine befriedigende Antwort erhielt ich jedenfalls keine.

Suizid

Knoten hier und Knoten da,
bereit das Seil schon lange war,
kratzt am Hals, so kommt es nah,
passt der Strick doch wunderbar.

Ulfberht Friedenreich

Ich selbst hatte meine ersten echten und längerfristigen Suizidgedanken als junger Erwachsener. Ich würde aber im Nachhinein denken, dass sie mir einfach nur eine gewisse Erleichterung verschafften, um mit den äußeren wie inneren Belastungen zurecht zu kommen. Auch das Herantasten in kleinen Schritten würde ich bei mir noch als ein Spielen mit dem Gedanken abtun. Ein gewisses Interesse an der Thematik bestand aber von Anfang an. Als im Jahr 2005 im Klett Verlag die Werkausgabe von Jean Améry erschien, einem bedeutenden Intellektuellen der 60 und 70-er Jahre in Deutschland, stieß mein Interesse bald darauf auf seinen Essay Hand an sich legen. In diesem Text plädierte er für den Freitod als einen Akt des Humanen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ein Kollege auf die Antwort reagierte, als er wissen wollte, was ich da im Pausenraum lese. Er war ziemlich brüskiert und seine erste Reaktion war die Unterstellung, dass ich „krank“ bin, so etwas zu lesen. Das ist nun wieder viele Jahre her und im Grunde weiß ich nur noch, dass Améry den psychiatrischen Einrichtungen unterstellte, in einer negativen Art Anwalt der Gesellschaft zu sein, da sie zum Schutz der Allgemeinheit die Suizidwilligen generell pathologisierten. Der Essay hatte mich auf jeden Fall beeindruckt.
Heutzutage liest man meistens eher Lebensratgeber, und folgt den gutgemeinten Appellen, dass man sich Hilfe holen solle und nicht alleine ist. Bücher über Suizid sind mindestens unterschwellig Bücher über Suizidprävention. Der Journalismus berichtet deutlich weniger von Suiziden, um die bekannten Trittbrettfahrer-Suizide einzudämmen. Was ich im Grunde auch alles gut und richtig finde. Trotzdem wird der Suizid meiner Meinung nach zu sehr moralisiert, bspw. weil oft gesagt wird, dass man den Angehörigen mit der Tat etwas Ungeheuerliches antut. Natürlich sollten die Gefühle der Angehörigen nicht negiert werden. Und solch eine Handlung kann traumatisieren. Aber das kann auch jede Trennung, Krankheit oder sonstiger Schicksalsschlag. Ich finde, der Suizid ist menschlich und ein Teil des Lebens.

Jean Améry nahm sich im Übrigen mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben – eine Methode, die im Vergleich zu den brutalen Wegen, wie sich vor Züge zu werfen, die Pulsadern aufschneiden oder von Hochhäusern springen, irgendwie doch eine sehr humane Art war. Allerdings bin ich selbst skeptisch bei Medikamenten, weil man diese heutzutage nicht mehr so leicht in großen Mengen bekommt und unsicher ist, ob sie ohne Leiden wirken.

Die Gesellschaft unterstellt Menschen, die Suizid begehen, oft Feigheit, aber es braucht sehr viel Mut, diesen Schritt zu gehen. Deswegen gibt es viele Versuche, abgebrochene Taten und noch mehr Ankündigungen. Jede Äußerung über Suizid sollte ernst genommen werden, denn oft stecken ernste Probleme dahinter, die Gesprächsbedarf und Lösungen erfordern.
Suizidprävention und die Forschung darüber ist also äußerst hilfreich: Es gibt Menschen, die von einer bestimmten Brücke springen können. Ist die Brücke nicht mehr da, dann springt dieser Mensch selten von einer anderen. Zumindest ist der Suizid weit nach hinten aufgeschoben. Bestimmte Orte, die häufig für Suizid genutzt werden, sollten dementsprechend entschärft werden. Das gleiche gilt wohl auch für den Zeitraum, wo die Entschlusskraft groß ist. Wird dieser meist kleine Zeitraum unterbrochen, vielleicht weil Rettungskräfte die Person in ein Gespräch verwickeln, verhindert man oft den Suizid. Und das ist auch gut so! Ich vermute aber, dass es sich dabei eher um Affektsuizide und nicht um die Bilanzsuizide handelt, welche oft gut geplant und rational durchdacht worden sind.
Viele Leute finden es o.k., wenn Apelle gesendet und Hilfsangebote gemacht werden, aber stehen der Sterbehilfe, vor allem bei psychisch Kranken und Gesunden, eher skeptisch gegenüber. Darunter nicht Wenige, die finden, dass die waghalsigen oder sogar grausamen Möglichkeiten, bspw. sich vor einem Zug werfen eine abschreckende Wirkung haben, und somit auch Suizide verhindern. Und Menschen, die zwar die Selbsttötung ankündigen, aber bisher nicht zur Tat fähig waren, werden oft wegen angeblicher Effekthascherei als Schwächlinge belächelt. Die Sichtweise in der Gesellschaft ist meiner Ansicht ziemlich fragwürdig.
Ich finde es falsch, dass Menschen sich vor Züge werfen müssen und sich dieser Gewalt aussetzen. Erstens: Sie tun es. Zweitens: Es ist nicht human. Daher bin ich zwar eindeutig für Apelle, Suizidprävention und Hilfsangebote, aber ich bin auch für eine weitreichende geschäftsmäßige Sterbehilfe in Deutschland. Und zwar nicht nur für körperlich Schwerkranke. Auch für psychisch Kranke und für gesunde Menschen! Auch hier werden mal wieder gerade die psychisch Kranken stigmatisiert. Ich finde es anmaßend, wenn mir die Gesellschaft vorschreibt, ich solle mit schwerer Depression jahrzehntelang weiter leben müssen, aber bei einem vom Hals ab querschnittsgelähmten Menschen haben viele Verständnis. Zum Glück hat das Bundesverfassungsgericht den Weg im Jahr 2020 aus guten Gründen wieder frei gemacht.

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BVerfG – Urteil

Das Bundesverfassungsgericht urteilte im Februar 2020, dass das 2015 verabschiedete Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe verfassungswidrig ist und das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt. Daher wurde der Paragraf 217 im Strafgesetzbuch nichtig. Der Bundestag bemühte sich im Jahr 2023 um eine neue gesetzliche Regelung, aber keine der drei möglichen Gesetzesvorschläge konnte verabschiedet werden. Daher gibt es keine genaue gesetzliche Regelungen. Laut Verein Sterbehilfe ist „kein Gesetz besser als ein schlechtes Gesetz“ und alle drei Vorschläge hätten die neuen Möglichkeiten zu geschäftsmäßiger Sterbehilfe wieder eingeschränkt. Von daher kann man nur hoffen, dass der Zugang für Sterbewillige erhalten bleibt und die Hürden bei einer neuen gesetzlichen Regelung nicht allzu hoch ausfallen werden.

Wert des Lebens

„Der Selbstmord ist ein Nein auf die Sinnfrage.“

Viktor Frankl

Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie, hat den Holocaust auf beeindruckende Weise überlebt und in seinem Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen“ den Sinn im Leben trotz Leid betont. Viele seiner Gedanken sind hilfreich, doch nicht jeder hat seine mentale Stärke. Zu behaupten, Suizid sei nur eine „Verneinung des Sinns“, ist überheblich, wenn es als allgemeine Pflicht verstanden wird. Viele Menschen können in ihrem Leiden keinen lebenstragenden Sinn erkennen. Der Wert des Lebens ist inhärent, entfaltet sich aber auch in unserem Umgang miteinander und mit der Welt. In Deutschland garantiert die Verfassung durch die Menschenwürde eine lebenswerte Politik. Auch die Religionen betonen immer wieder den inhärenten Wert des Lebens, bürden diese Verpflichtung aber meistens dem Individuum auf. Doch dieser Wert wird durch Ausbeutung, Krieg und Umweltzerstörung ständig infrage gestellt. Es ist paradox, dass man dem Einzelnen verbieten will, den eigenen Lebenswert zu hinterfragen. Und meiner Meinung nach wird das indirekt getan, wenn die geschäftsmäßige Sterbehilfe strikt verboten ist. In einer freien Gesellschaft sollte auch das eigene Lebensende Teil der Selbstbestimmung sein. Staat und Gesellschaft sollten eine umfassende Sterbehilfe ermöglichen, aber auch den Wert des Lebens aktiv fördern. Nicht durch Negativität und Unterdrückung, sondern durch Mitgefühl und positive Unterstützung.

Mein Ende gehört mir!

Wenn ich gehen will, dann soll mir das auf eine humane Weise ermöglicht werden. Dazu braucht es aber auch professionelle und helfende Hände. Ein Ja zu geschäftsmäßiger Sterbehilfe. Ein Nein zu allzu großen Hürden.

Ulfberht Friedenreich, seit 2022 Mitglied beim Verein Sterbehilfe

Angst blockiert das Denken. Das gilt auch für die geschäftsmäßige Sterbehilfe. Ich denke, bei vielen Menschen ist eine Ablehnung deshalb fast schon reflexartig, weil man den Tod fürchtet und so wenig an sich heran lassen will, wie möglich. Oder die Angst bestimmt das Denken, dass es irgendwann eine moralische Pflicht gäbe, nicht zur Last oder alt werden zu dürfen. Das gilt es natürlich zu verhindern. Die Balance halten, wäre wichtig. Ein Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe ist ein Extrem, das andere wäre ein Missbrauch der Sterbehilfe. Beides falsch. Man muss den Zugang der Sterbehilfe offen halten und immer wieder die richtige Balance finden. Allein schon unsere Verfassung ist ein guter Garant für eben solch eine ausgewogene Balance. Und ich hoffe, dass diese Balance immer auch das Selbstbestimmungsrecht des Menschen im Fokus hat.

Sterbehilfe könnte soziale Ungleichheiten verstärken, da Vereine verständlicherweise Geld für ihre Dienste verlangen. Der Zugang wäre für armutsbetroffene Menschen erschwert. Es braucht hier Strukturen der Solidarität, denn „effektive Hürden“ sollten nicht finanzieller Natur sein, sondern in der Wertschätzung des Lebens und umfassender Beratung bestehen. Geld sollte keine wesentliche Hürde spielen.

Ich finde es richtig und wichtig, dass sterbewillige Menschen professionell begleiten werden, unter anderem mit präventiver Hilfe, mit therapeutischen Gesprächen aber auch immer die Möglichkeit einer Suizidassistenz offen bleibt. Sterbewilligen, die rational in ihrem Entschluss gefestigt sind (Bilanzsuizid), sollten keine Steine in ihren Weg gelegt werden. Man sollte ihren Weg dorthin nur mit Liebe und Hilfsangeboten pflastern. Aber man sollte sie gehen lassen, wenn sie das Ende beschließen, so gut und human und liebevoll wie möglich.

Deshalb bin ich lebenslanges Mitglied im Verein Sterbehilfe!

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Liberale Freiheit in Gefahr

Die geschäftsmäßige Sterbehilfe und das in dieser Sache unbeschränkte Persönlichkeitsrecht sind Errungenschaften von liberalen Gesellschaften. Driften diese Gesellschaften in autoritäre Strukturen ab, steht Freiheit immer und überall auf dem Spiel. Das gilt ganz sicher auch für die Sterbehilfe. Nur so kann man den Brief meines Vereins lesen, den alle Mitglieder in Brandenburg, Sachsen und Thüringen Anfang April 2024 und vor den entsprechenden Landtagswahlen der benannten Bundesländern als Warnung erhalten haben.

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