Nostalgie-Shirt „Türkiye“

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Soccershirt „Türkiye“ aus dem Jahr 2002.
100% Baumwolle. Mit schönem Schriftzug, verziert mit Umrandungsstickerei.

Spätestens Anfang der 2000er Jahre entschied ich mich dafür, weder Schmuck noch Markenkleidung zu tragen. Diese Einstellung ist mir bis zuletzt, bis auf wenige Ausnahmen, erhalten geblieben. Dennoch schaffte es das ein oder andere Statement-Shirt in meinen Kleiderschrank. Beispielsweise das legendäre „Planet Punk“ Shirt von den Ärzten, einige Vegan-Shirts, Shirts von meiner Arbeitsstelle oder eben das Retro-Fußballtrikot „Türkiye“.

Mittlerweile bin ich auch von Statement-Bekleidung weg. Im Grunde gibt es immer jemanden, der sich stört. Abgesehen davon finde ich, dass ich weder eine wandelnde Litfaßsäule mit Werbung (Marken) bin, noch ein Meinungstransparent. (Das gilt für mich! Alle nach eigenem Belieben!) Alle T-Shirts dieser Art landeten in der Altkleidersammlung. Außer mein Türkiye-Shirt, dass ich aus nostalgischen Gründen behalten werde.
Da es mittlerweile einige hartnäckige Flecken hat und hier und da die Naht sich löst, trage ich es zum Schutz überhaupt nicht mehr.

Wie ich zu dem Shirt kam, ist eigentlich schnell erzählt. Im Jahr 2002 überstand die türkische Nationalmannschaft das erste Mal die Gruppenphase der Fußballweltmeisterschaft. Ich blätterte in der Zeit ein wenig im Prospekthaufen, der in der Küche meiner Eltern lag, und entdeckte bei REWE preisgünstige WM-Trikots mit Stickerei, aus 100% Baumwolle. Mein Interesse war sofort geweckt. Kurz darauf erwarb ich das Shirt im Gesundbrunnencenter in Berlin-Wedding, welches ich am Tag des Kaufs das erste Mal betrat. Ich entschied mich, wenn ich mich recht erinnere, recht instinktiv für Türkiye und nahm mir vor, das Shirt zu tragen, sobald ich selbst Fußball spielen werde. (Ich glaube, das war auch der Grund, warum ich extra zu einem REWE in den Wedding fahren musste.)
Um in meiner Schilderung zunächst die WM-Geschichte abzuschließen: Die Türkei spielte furios erfolgreich und landete auf den dritten Platz. Ihre mit Abstand erfolgreichste WM-Teilnahme überhaupt.

Damals war ich bereits einige Jahre auf meiner ersten Arbeitsstelle. Wir hatten das Privileg, in der nahegelegenen Turnhalle recht häufig gemeinsam Fußball spielen zu können. Natürlich trug ich mein neues Shirt stolz auf. Doch das kam nicht wirklich gut an. Im Grunde wusste ich, dass es bisher keinen einzigen Migranten bei uns gab und wohl auch, zumindest in meiner Zeit, so ein Mensch auf meiner Arbeit keine Anstellung gefunden hätte. Trotzdem zog ich es an. Und obwohl ich in den wichtigen Momenten meines Lebens oft der Angst den Vortritt lasse, wusste ich schon, dass das mutig von mir war.

Zwei oder drei Partien lang konnte ich das Shirt tragen, bis mich am Ende des Spiels ein Vorgesetzter auf dem Weg zur Dusche ansprach und deutlich machte: „Wenn du das Shirt noch einmal trägst, dann breche ich dir die Beine!“ – Von da an sah man in der Halle und auf dieser Arbeitsstelle nie wieder den Schriftzug und den roten Halbmond meines Shirts. Seine Mahnung nahm ich absolut ernst. Weder kam mir in den Sinn, mich bei einem höhergesetzten Vorgesetzten für mein Shirt einzusetzen, noch die Provokation fortzuführen. Die Aussicht wäre allemal nicht gut. Der vorgesetzte Beinebrecher jedenfalls hasste mich sowieso. Nicht nur einmal stand er mit hochrot wutentbranntem Kopf dicht an dicht an meiner Stirn, um mir ein Boxduell anzubieten. Nicht nur einmal lief ihm der Geifer aus den Mundwinkeln, als er mich anbrüllte und mich hin und her riss, weil ich seiner Meinung nach nicht richtig am Platze war. Und zwar auf Arbeit, nicht beim Fußball. Nicht nur einmal bekannte er, wenn ihm jemand Rassismus vorwarf, mit freudiger Genugtuung: „Ja, ich bin Rassist!“ Insofern hätte ich wissen müssen, dass mein Shirt pure Provokation ist und nicht gut für mich. Jedoch, so will ich mittlerweile wissen, dass Provokation überhaupt nicht mein Anliegen war, als ich mich für dieses Shirt entschied. Sondern neben einer naiven Dummheit auch längst verdrängte oder halb vergessene Erlebnisse eine Rolle spielten, die ich hier noch erzählen möchte.
Auf der Arbeitsstelle war ganz sicher nicht alles schlecht und wenn ich nicht schon traumatisiert aufgeschlagen wäre, hätte ich die Zeit sicherlich besser gemeistert. Je mehr Jahre ins Land zogen, desto mehr machte ich auf Psycho, was eine gute Überlebensstrategie war und auch den erwähnten Peiniger immer mehr besänftigte. Doch am Ende war ich nur noch fertig und nutzte die freiwillige Gelegenheit einer Umstrukturierungsmaßnahme und verließ diesen Arbeitsbereich.

Im Jahr 2006 wechselte ich also die Arbeitsstelle. In der neuen Umgebung konnte ich ohne körperliche Gefahr das Shirt beim gemeinsamen Sport präsentieren. Aber in all den Jahren nur wenige Male. Meine Erfahrung mahnte zur Vorsicht.
Selbst privat trug ich das Shirt selten mal. Meistens auf Familienfeiern.
Und bei öffentlichen Auftritten erntete ich ziemlich oft auch abwertende Blicke. Eine Unbeschwertheit war also nirgendwo möglich. Dazu kam aber auch, meiner tendenziell eher linken Verortung wegen, dass ich zweitweise wegen der Politik und dem Personenkult um Erdogan ein wenig Beklemmung hatte. Grundsätzlich aber stehe ich auch als linker Mensch dazu, Fußballtrikots von jedweder Nationalmannschaft tragen zu können, solange es mir selbst nicht als ein politisches (!) Statement dient. Und ja, wenn irgendwann mal ein deutsches Retro-Shirt in 100% Baumwolle in meinen Blick gerät, könnte ich theoretisch bei passender Gelegenheit schwach werden.
Ich nahm mir ziemlich schnell vor, dass Shirt wenigstens einmal im Jahr öffentlich zu tragen, und zwar zum Jahrestag des Brandanschlags in Solingen, als am 29. Mai 1993 fünf Menschen durch eine rechtsextremistische Tat zum Opfer fielen. Ich weiß nicht, ob das bei den zwei oder drei genutzten Jahrestagen überhaupt auffiel, aber manch migrantisch gelesene Mensch lächelte mich mit Anerkennung freundlich an.
(Und für alle, die den Islam kritisch sehen oder den türkischen Nationalismus: Ja, gefährliche Fundamentalisten und Extremisten gibt es überall. Ich negiere nichts und blende nichts aus, so gut es in meiner Macht steht.)

Letztlich blieb das Shirt im Kleiderschrank und kam selten bis gar nicht hervor. Mittlerweile bleibt es dort, bis es zu Staub zerfällt. Weder werde ich es tragen, noch weggeben. Es ist ein nostalgisches Kleidungsstück für mich.
Warum, dazu schreibe ich irgendwann und an dieser Stelle bestimmt noch mehr…

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